Wahlkampf in Schlangen. War da was? Ja, es tut sich was.1 Und jetzt werden die “großen Themen” ausgepackt. Gestern bin ich über den Beitrag unseres unabhängigen Bürgermeister-Kandidaten gestolpert, der sich dem Thema Energiewende widmet. Titel: „Der (Alp-)Traum von der Energiewende“. Das klang schon mal dramatisch für mich.
Der Kandidat verspricht „Basics, die gerne in der Diskussion unterschlagen werden“ und erhebt dabei „keinen wissenschaftlichen Anspruch“. Eine charmante Umschreibung, die mich aber sofort neugierig gemacht hat. Denn gerade bei einem so komplexen Thema wie der Energieversorgung können weggelassene Nachkommastellen und vereinfachte „Basics“ schnell ein schiefes Bild zeichnen.
Die Zahlen und Behauptungen im Text haben mich dann doch stutzig gemacht. 400 % installierte Leistung? Strom, der verramscht wird, um den Blackout zu verhindern? Deutschland als abhängiger Strom-Bettler? Das wollte ich genauer wissen und habe mich mal durch die offiziellen Daten gewühlt. Lasst uns gemeinsam einen kleinen Faktencheck machen.
Behauptung 1: Der Strombedarf sinkt wegen des „großartigen Wirtschaftsabschwungs“
Es startet mit einem sarkastischen Dank an Herrn Habeck und behauptet, der Strombedarf in Deutschland sei 2024 erneut rückläufig.
Der Faktencheck: Ein Blick in die offiziellen Daten der Bundesnetzagentur (SMARD) für das Gesamtjahr 2024 zeigt ein anderes Bild. Die Netzlast, ein guter Indikator für den Stromverbrauch, ist im Vergleich zum Vorjahr leicht um 1,3 % gestiegen.2 Auch das Bundeswirtschaftsministerium bestätigt diesen leichten Anstieg des Brutto-Inlandsstromverbrauchs.3 Die Prämisse, auf der der Seitenhieb auf die Bundespolitik aufbaut, ist also faktisch nicht korrekt.
Behauptung 2: 400 % installierte Leistung – ein System am Rande des Wahnsinns?
Jetzt wird es mathematisch – oder so ähnlich. Der Kandidat wirft mit beeindruckenden Zahlen um sich: 252,1 GW installierte Kraftwerksleistung stünden einem Bedarf von nur 60 GW gegenüber. Das seien 400 % des Bedarfs.
Der Faktencheck: Hier wird ein klassischer Trick angewendet: Man vergleicht Äpfel mit Birnen. Die „installierte Leistung“ ist die maximale Nennleistung, die alle Kraftwerke theoretisch erbringen könnten, wenn die Bedingungen perfekt sind – also die Sonne optimal scheint, der Wind ideal weht und alle konventionellen Kraftwerke auf Volllast laufen. Das ist aber in der Realität nie gleichzeitig der Fall.
Es ist, als würde man die PS-Zahl aller Autos in Deutschland zusammenzählen und behaupten, wir könnten alle gleichzeitig mit Höchstgeschwindigkeit fahren. Die Realität ist, dass wir diesen breiten Mix an installierter Leistung brauchen, um die Versorgung auch dann sicherzustellen, wenn eben nicht überall der Wind weht oder die Sonne scheint. Die Gegenüberstellung von maximal möglicher Leistung und einem gemittelten Bedarf ist bewusst irreführend und zeichnet das Bild einer absurden Überkapazität, die es so in der Praxis nicht gibt.
Behauptung 3: Deutschland ist nach dem AKW-Aus ein abhängiger Strom-Importeur
Das ist eines der stärksten Bilder im Text: Deutschland, der ehemalige Export-Champion, muss nach der Abschaltung der Atomkraftwerke nun Strom im Ausland „verramschen“ und ist abhängig von Importen, insbesondere von französischem Atomstrom.
Der Faktencheck: Es stimmt, Deutschland war 2024, wie schon 2023, unterm Strich ein Netto-Stromimporteur.3 Aber warum? Nicht, weil wir zu wenig eigene Kraftwerkskapazitäten hätten, um unseren Bedarf zu decken. Sondern weil es in vielen Stunden des Jahres schlichtweg günstiger war, Strom aus dem europäischen Ausland zu beziehen, als teurere heimische Kraftwerke (insbesondere Gaskraftwerke) hochzufahren.2 Das ist kein Versagen, sondern ein Zeichen funktionierender Marktwirtschaft im europäischen Binnenmarkt, was am Ende die Preise für uns alle dämpft.
Und die angebliche „Abhängigkeit“ von französischem Atomstrom? Auch hier lohnt ein Blick auf die Relationen. Der aus Frankreich importierte Strom machte 2024 gerade einmal 3,5 Prozent des deutschen Netto-Stromverbrauchs aus.5 Von einer fundamentalen Abhängigkeit kann also kaum die Rede sein.
Behauptung 4: Negative Strompreise und abgeschaltete Windräder sind Chaos pur
Das klingt doch verrückt: Wir zahlen dafür, dass andere unseren Strom abnehmen (negative Strompreise) und schalten gleichzeitig Windräder ab, deren Betreiber dafür auch noch voll vergütet werden. Der Kandidat stellt das als Beweis für ein kaputtes System dar, bei dem der Endverbraucher „die Zeche zahlt“.
Der Faktencheck: Auch hier wird der Kontext bewusst weggelassen.
- Negative Strompreise: Die gab es 2024 tatsächlich an 457 Stunden.2 Sie sind aber kein Zeichen von Chaos, sondern ein starkes Marktsignal: Wir haben in diesen Momenten Unmengen an sauberem, billigem Strom im Überfluss.6 Das ist eine riesige Chance und ein starker Anreiz für Investitionen in Speichertechnologien und flexible Verbraucher (z. B. intelligentes Laden von E-Autos).
- Abgeschaltete Anlagen (Redispatch): Ja, Windräder und Solarparks werden bei Netzengpässen abgeregelt. Und ja, die Betreiber werden für den entgangenen Ertrag entschädigt.8 Das ist im Energiewirtschaftsgesetz und durch EU-Recht so vorgeschrieben, um die Investitionssicherheit in Erneuerbare überhaupt zu gewährleisten.10 Die Kosten, die dadurch entstehen (2023 rund 3,1 Mrd. Euro 12), sind ärgerlich, keine Frage. Aber sie sind nicht die Schuld der Windräder, sondern die direkte Folge eines seit Jahren verschleppten Netzausbaus. Man kann nicht die Feuerwehr für den Brand verantwortlich machen, wenn man vorher die Wasserleitungen nicht verlegt hat.
Mein persönliches Fazit
Was bleibt also übrig vom „(Alp-)Traum der Energiewende“? Ein Beitrag, der geschickt mit Halbwahrheiten, verdrehten Kontexten und emotionalen Bildern spielt. Das ist vielleicht legitim im politischen Wettbewerb. Aber als Bürger wünsche ich mir eine ehrlichere Debatte, gerade auf lokaler Ebene. Vor allem, von jemandem, der sich darauf beruft, gut mit Zahlen umzugehen.
Die Energiewende ist kein Spaziergang, und die Herausforderungen – allen voran der Netzausbau – sind riesig. Aber wir sollten sie auf Basis von Fakten diskutieren, nicht auf Basis von Zerrbildern, die mehr Ängste schüren als Lösungen aufzuzeigen. Die Behauptung, wir würden mit der Deindustrialisierung in die „Stoneage“ zurückkehren, ist eine populistische Zuspitzung. Ein Blick auf die Realität zeigt: 2024 stammten fast 60 % unseres Stroms aus erneuerbaren Quellen, während die Kohleverstromung auf ein historisches Tief gefallen ist.2 Das klingt für mich nicht nach Steinzeit, sondern nach Zukunft.
Fakten-Grundlage (Quellen):
- Bundesnetzagentur (BNetzA): Datenplattform SMARD, Pressemitteilungen zum Strommarkt 2024 und zum Ausbau der Erneuerbaren Energien 2024.16
- Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK): Zahlen und Fakten zum Strommarkt.3
- Statistisches Bundesamt (Destatis): Daten zur Stromerzeugung und zum Stromhandel.14
- Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE): Auswertungen zur öffentlichen Nettostromerzeugung 2024.19
- Clearingstelle EEG-KWKG / BDEW: Informationen zur Entschädigung bei Redispatch-Maßnahmen.10
- Diverse Fachportale: Informationen zu Stromimporten und negativen Strompreisen.5
Referenzen
- Vorheriger Beitrag von mir, https://www.ti-on.eu/
- Der Strommarkt im Jahr 2024 – SMARD, https://www.smard.de/page/home/topic-article/444/215556/der-strommarkt-im-jahr-2024
- BMWE – Unser Strommarkt für die Energiewende – BMWK, https://www.bundeswirtschaftsministerium.de/Redaktion/DE/Dossier/strommarkt-der-zukunft.html
- Deutsche Stromimporte: Neuer Rekord und neues Lieferland Nummer eins, https://www.zfk.de/energie/strom/deutsche-stromimporte-neuer-rekord-und-neues-lieferland-nummer-eins
- Stromimporte | Elektromobilität.NRW, https://www.elektromobilitaet.nrw/infos/stromimporte/
- Negative Strompreise 2025: Unternehmen kassieren Geld, https://energiefahrer.de/negative-strompreise-2025-unternehmen-kassieren-geld/
- Rekord: Mai 2025 negative Strompreisen in Deutschland – NetZero Academy, https://www.netzeroacademy.de/news-detail/mai-2025-rekord-negative-strompreise-deutschland-energiewende-tipps/r/recHqqqduXp77MnYZ
- Was sind Einspeisemanagement (Eisman) und Abregelung? – Next Kraftwerke, https://www.next-kraftwerke.de/wissen/einspeisemanagement
- Redispatch im deutschen Stromsystem – Hintergründe, Kostenverteilung, Emissionen, https://foes.de/publikationen/2023/2023_09_FOES_Redispatch.pdf
- In welchen Fällen steht Anlagenbetreibern bei Abschaltungen ihrer …, https://www.clearingstelle-eeg-kwkg.de/haeufige-rechtsfrage/162
- Vorrang für Strom aus erneuerbaren Energien in Deutschland und Frankreich Netzanschluss, Einspeisevorrang, Einspeisema- nagement und Redispatch Dezember 2019, https://energie-fr-de.eu/de/systeme-maerkte/nachrichten/leser/vorrang-fuer-strom-aus-erneuerbaren-energien-in-deutschland-und-frankreich.html?file=files/ofaenr/04-notes-de-synthese/03-uniquement-pour-adherents/04-systemes-et-marches/2019/DFBEW_Hintergrundpapier_Vorrang_Erneuerbare_1912.pdf
- Netzengpassmanagement im Jahr 2023 – SMARD, Zugriff am August 20, 2025, https://www.smard.de/page/home/topic-article/444/213590/netzengpassmanagement-im-jahr-2023
- Mehr Redispatch-Maßnahmen, aber geringere Kosten, Zugriff am August 20, 2025, https://www.zfk.de/energie/strom/mehr-redispatch-massnahmen-aber-geringere-kosten
- Stromerzeugung 2024: 59,4 % aus erneuerbaren Energieträgern – Statistisches Bundesamt, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/03/PD25_091_43312.html
- Stromerzeugung in Deutschland im Jahr 2024 – Fraunhofer-Institut …, https://www.ise.fraunhofer.de/content/dam/ise/de/documents/presseinformationen/2025/Stromerzeugung_2024.pdf
- Bundesnetzagentur veröffentlicht Daten zum Strommarkt 2024, https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2025/20250103_smard.html
- Presse – Ausbau Erneuerbarer Energien 2024 – Bundesnetzagentur, https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2025/20250108_EE.html
- Stromerzeugung im 1. Halbjahr 2024: Mehr als 60 % aus erneuerbaren Energien – Statistisches Bundesamt, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/09/PD24_334_43312.html
- Öffentliche Stromerzeugung 2024: Deutscher Strommix so sauber wie nie – Fraunhofer ISE, https://www.ise.fraunhofer.de/de/presse-und-medien/presseinformationen/2025/oeffentliche-stromerzeugung-2024-deutscher-strommix-so-sauber-wie-nie.html